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Sybilla Nikolow

Wer das Elend von 1914-1918 nicht persönlich erlebt hat, kann gar nicht mitreden“. Aktivismus von Kriegsversehrten im Kampf um Anerkennung ihrer Leiden

Wer den Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg trotz maschineller Tötungsgewalt aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung überlebt hatte, kehrte meist dauerhaft an Körper und Seele geschädigt zurück. Während Statistiken die Fälle erfassten, deren Leiden nach medizinischem Urteil als kriegsverursacht und erwerbsmindernd anerkannt wurden, lassen sich die Auswirkungen auf die Betroffenen nur in ihren Geschichten nachvollziehen. In den Egodokumenten, die sich in Fürsorgeakten überliefert haben, zeigen sich neben der Vielfalt und Komplexität der Lebenslagen verschiedene Strategien, mit denen Leiderfahrungen gegenüber Behörden und ärztlichen Gutachern kommuniziert wurden. Waren die Betroffenen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf staatliche Unterstützungsmaßnahmen angewiesen, sahen sie sich vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt. Zum einen wurde ihnen immer wieder aufs Neue ein vollumfänglicher Nachweis ihrer Bedürftigkeit abverlangt, obwohl sie dauerhaft geschädigt waren und sich ihre soziale Lage aufgrund der Wirtschaftskrisen verschlechtert hatte. Zum anderen erwartete die Nachkriegsgesellschaft von ihnen, erlittenes Leid stumm zu ertragen, negative Emotionen nicht zu zulassen und nach vorne zu schauen. Der Schwerbeschädigte Johann A. versuchte diesem Dilemma zu entkommen, indem er allen, die das „Elend von 1914-1918“ nicht persönlich miterlebt hatten, rund 20 Jahre danach das Recht auf Mitsprache entzog. Seine Verweigerung gegenüber Fremddeutungen des eigenen Leids kann als früher, wenngleich noch erfolgloser Versuch zur Selbstermächtigung interpretiert werden. Das Beispiel lässt erahnen, wie weit Betroffene noch zu gehen hatten, bis ihnen epistemische Autorität zugesprochen wurde.