zurück

Julia Engelschalt

Der Vergangenheit gerecht werden? Historiographische Reflexionen über Chancen und Herausforderungen identitätspolitischer Perspektiven

In einer Zeit, in der Postkolonialismus und Dekolonisierung weit oben auf der gesellschaftlichen Agenda stehen und Historiker*innen aufgerufen sind, Ziele und Relevanz ihrer Arbeit in einer polarisierten Ära der vermeintlichen Postfaktizität zu überdenken, ist die Beziehung zwischen Aktivismus, Kolonialismus und der Geschichte der Geschichtswissenschaft so bedeutsam wie spannungsreich (vgl. Sweet 2022; Araujo & Lopes dos Santos 2022). Der hier vorgeschlagene Beitrag, entstanden aus Diskussionen zwischen einem Althistoriker und einer Neuzeithistorikerin, untersucht die Bedeutung post- und dekolonialer aktivistischer Perspektiven für die Historiographiegeschichte. Besonderes Augenmerk gilt dem Einfluss gesellschaftlicher wie innerfachlicher Debatten über Rassismus und Diversität auf analy-tische Kategorien und epistemische Praktiken in der Forschung zu Moderne und Vormoderne. Zentral ist dabei die Frage nach Chancen und Herausforderungen der Anwendung zeitgenössischer Kategorien für eine nuancierte historische Analyse.

Ausgehend von historiographiegeschichtlichen Überlegungen wenden wir uns einem althistorischen Beispiel zu und fragen nach der Fruchtbarkeit von Forschungen aus dem Bereich der critical race theory für die Untersuchung einer zentralen Figur der antiken Welt: Kleopatra VII., deren Hautfarbe und ethnische Zugehörigkeit wiederholt unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert worden ist (vgl. Shohat 2021; Derbew 2022). Wie stark basiert die These der „schwarzen Kleopatra“ auf Quellen, die von der Propaganda ihres römischen Widersachers – des späteren Kaisers Augustus – geprägt waren? Beruht sie auf einer unbeabsichtigten Essenzi-alisierung rassistischer Zuschreibungen, die sie eigentlich ablehnt? Und welchen Beitrag leisten Studien wie die zur „schwarzen Kleopatra“ trotz oder gerade wegen der aktuellen Bedeutung ihrer Analysekategorien für die historische Forschung wie auch für die wissenschaftshistoriographischen Selbstreflexion?