Die Psychiatrie war seit ihrem Entstehen immer wieder Gegenstand der Kritik. Aber mit dem Auftauchen der Neuen Sozialen Bewegungen erreichte sie ab Ende der 1960er Jahre ein neues Ausmaß gesellschaftlicher Resonanz: Aktivist*innen innerhalb und außerhalb des medizinischen Feldes trugen die Lage von Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen Beeinträchtigungen und Suchterkrankungen in die Öffentlichkeit, um sie als politisches, soziales und ethisches Problem zu diskutieren.
Diese Entwicklung soll näher beleuchtet werden: Wie beeinflussten sich die Aktivist*innen aus verschiedenen Feldern gesundheitspolitischer Praxis wie der AIDS-Bekämpfung und psychiatrischer Therapiekonzepte zur Opiatabhängigkeit gegenseitig (Falk)? Wie interagierten linker Aktivismus und Psychiatriekritik (Borck/Schmidt-Herzog am Beispiel von Erich Wulff und dessen Erfahrungen in Vietnam)? Von welcher Relevanz waren neue aktivistische Strategien wie die „Gesundheitstage“ als Gegenveranstaltung zum Deutschen Ärztetag für die Implementierung neuer Wissensformen in die Psychiatriekritik (Rotzoll)? Welche Rolle spielten künstlerische und performative Aktion, wie die „Blaue Karawane“, bei der Patient*innen, Klinikmitarbeitende und Künstler*innen 1985 durch Psychiatrien zogen, um für deren Schließung zu protestieren (Beyer/Ramm)? Was bedeutete also Aktivismus in der und für die Psychiatriekritik der 1970er und 1980er Jahre? Welche neuen Stimmen, Akteur*innen und Strategien wurden darin vernehmbar und wie unterschied sich dieser Aktivismus von Kritikformen, denen die Psychiatrie seit ihrem Bestehen ausgesetzt war? Wie wurde dieser Aktivismus damals in der Öffentlichkeit verhandelt und welche Effekte auf die professionelle Praxis und das wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychiatrie lassen sich aus der Rückschau festmachen? Diesen Fragen möchten die Vortragenden auf der Basis ihrer Forschungsarbeit in verschiedenen Projekten der DFG-Forschungsgruppe „Normal#verrückt“ in der Sektion nachgehen.